Gibt man im Internet „König Lear“ von William Shakespeare ein, um Tipps zu dieser Besprechung zu erhalten, taucht gleich dreimal die Mittel- und Oberstufen Theater AG des Gymnasium bei St. Michael (Leitung: Myriam Kossak) mit ihrer Ankündigung des Schauspiels auf. Scrollt man weiter nach unten, erscheinen Kritiken bekannter Schauspielhäuser wie Stuttgart, Ulm oder Halle. Keine Schul-Theater-Aufführung wird als Besprechung angeboten. Umso erstaunlicher ist es, dass die jungen Schauspieler sich an dieses Stück um zwei parallel verlaufende Konflikte wagten.
Da ist zum einen die Geschichte um König Lear. Alt und amtsmüde möchte er sein Reich unter seinen drei Töchtern Goneril (Ilayda Kohl), Regan (Paula Dürr) und Cordelia (Arjeta Ramabaja) aufteilen. Aber er macht aus der Verteilung ein Spiel: Einen Liebestest: Wer mich am meisten liebt, bekommt das größte Stück Land. Seine zwei ältesten Töchter umgarnen ihn mit leeren Worten, aber seine jüngste Tochter Cordelia weigert sich, an der Scharade teilzunehmen – wahre Liebe ist kein Tauschhandel! Es kommt zum Eklat. Die Jüngste wird verstoßen, mit den beiden Älteren geht es auch nicht lange gut. Eine völlig zerstrittene Familie geht gegeneinander los.
Der zweite Konflikt dreht sich um die beiden Söhne des Grafen Gloster (Sevim Sen), ein Gefolgsmann des Königs. Der uneheliche Sohn Edmund (Louis Kuschnir) spinnt eine Intrige, um seinen Bruder Edgar (Tim Gehrke), den ehelichen Sohn des Grafen, auszuschalten. Am Schluss endet das Spiel tragödiengerecht mit dem Tod fast aller Figuren.
König Lear ist eine dunkle Tragödie, in deren Fokus Fragen stehen, die die Menschheit schon immer bewegt haben: Der Sinn des Lebens und damit der Umgang der Kinder mit den Vätern und dem Alten, für das sie stehen. Übrig bleiben ein zerstörtes Reich und zerstörte Menschen, die Krone liegt verwaist auf dem Thron.
Trotz dieser nihilistischen Weltsicht weint keiner im Publikum. Im Gegenteil, diese moderne Bühnenversion, von den Mitwirkenden zum Teil selbst geschrieben, überzeugt besonders durch seine komödienhaften Elemente. Edgar, der für vogelfrei erklärt wurde und sich verstecken muss, mimt den Verrückten, verhüllt und verkleidet sich mit einer blauen Mülltüte, sucht verzweifelt nach einem neuen Namen, bezieht das Publikum bei der Namensfindung mit ein („Reifen.. Fass… Nagel?“), nennt sich fortan „armer Tom“ und überzeugt mit Wortspielen, bei denen ihm anzumerken ist, dass sie ihm spontan vor lauter Spaß am Spiel einfallen. König Lear (Sarah Logan), von seinen Töchtern und Schwiegersöhnen (Nicole Ziegler, Cedric Wüst) im Wald ausgesperrt, wird vom Herrscher zum wahnsinnigen Obdachlosen und man nimmt ihm diese wortgewaltige Rolle sofort ab. Beim Höhepunkt der Handlung kehren sich die Rollen um. Die Narren (Anna Böttcher, Lynne Dörr, Michelle Jantas, André Sperrle, Hannah Wels) erscheinen in den chaotischen Heideszenen nicht närrisch, sondern vernünftig. Ihre perfekt dargebotenen musikalischen und tänzerischen Einlagen lassen das Publikum vergessen, dass es eine Tragödie sieht. Auch die Fechtszenen tragen zur komödiantischen Unterhaltung bei, ohne dadurch den Sinn des Stücks zu verfälschen.
Das moderne Bühnenbild, minimalistisch reduziert, stellte einen Schrottplatz, Symbol des Verfalls, dar. Die Kostüme der drei Schwestern (Tüllrock, Stiefel und Lederjacke) und die Irokesenfrisur von Edgar waren „punkig“ angehaucht, passend zum Schrottplatz-Ambiente. Im Kontrast dazu trat Edmund in elegantester Kleidung auf, wodurch seine Angepasstheit und Falschheit symbolisiert wurde. Um unerkannt zu bleiben, verkleidete sich Graf von Kent (Lea Hägele) auf großartige Weise zu einem wilden Löwenmann. Und die mit amerikanischem Akzent verstellte Sprache hielt er lückenlos bis zum Schluss durch. Unterstützt wurde die Atmosphäre mit Livemusik direkt aus dem Zuschauerraum. Maike Piesker (Cello) und Andreas Knoblich (E-Piano und Synthesizer) ließen an markanten Stellen passend zu Shakespeare klassische Stücke erklingen und effektvolle Klänge des Synthesizers untermalten die Szenen.
Der Mut, dieses Stück auf die Bühne zu bringen, hat sich gelohnt. Mit einer unbeschreiblichen Begeisterung und mit vollem Elan schlüpften alle Mitwirkenden in ihre Rollen, so dass dem Schulleiter Frank Nagel am Schluss nur die Worte blieben: „Diese Schauspieltruppe wird von Jahr zu Jahr besser und wächst immer mehr über sich hinaus!“