„Das Haus in Montevideo“

„Moral kennt keine Ferien!“

– Mit diesem seinen zutiefst verinnerlichten Grundsatz ermahnt Professor Traugott Nägler seine ihm anvertrauten Schüler, sich in den bevorstehenden Sommerferien gebührlich zu verhalten. So beginnt die Aufführung der Theater-AG des Gymnasiums bei St. Michael: „Das Haus in Montevideo“

Das Haus in Montevideo“

Doch es kommt ganz anders, wie die Zuschauer bereits erahnen können. Nach dieser Deskription seines unumstößlichen Standpunktes (der Professor redet viel in lateinischen Sätzen und auch seine Kinder tragen alle lateinische Namen!) erhält das Publikum einen ersten Einblick in des Professors trautes Heim. Seine ihn liebende Gattin und seine zwölf Kinder im Alter von drei bis sechzehn Jahren führt er mit straffem Regiment. Unverhofft kommt Pastor Riesling zu Besuch. Sogleich beginnt der Professor am Esstisch mit seinem Exerzitium der lieben Kleinen. Aber nicht nur die Kinder werden im militärischen Stil abgefragt, auch seine liebenswerte Ehefrau, die sich nicht so gut mit Fremdwörtern auskennt, deklamiert wie befohlen die französischen Präpositionen. Amüsiert sich das Publikum anfangs über diesen – vielleicht noch etwas – volkstümlichen Humor, steigert sich das Stück mit jeder Szene, mit jedem neuen Auftritt, mit jedem Satz zu einer witzigen, wortgewaltigen und gleichzeitig geistreichen und tiefgründigen Komödie, die dem Zuschauer die Tränen in die Augen treibt.

Zurück zum Geschehen: Pastor Riesling, mit einer unglaublichen Mimik und Gestik gespielt von Cedric Wüst, bringt die frohe Botschaft, dass eine unerwartete Erbschaft ins Haus stehe. Die Schwester des Professors, die vor vielen Jahren als junges Mädchen von Traugott aus der Familie verstoßen wurde, weil sie unverheiratet ein Kind erwartete, ist gestorben. Ihr Schicksal hatte eben diese Schwester nach Südamerika, nach Montevideo, verschlagen, wo sie eine vermögende Dame geworden war. Die eigentlich Begünstigte der Erbschaft soll aber Atlanta (Nicole Ziegler) sein, die älteste Tochter des Professors, die ihren ungewöhnlichen Namen nach dem Schiff „Atlanta“ erhielt, auf dem die Eltern einst heirateten. Mit einiger List und Überzeugungsarbeit durch die herbeigerufenen Honoratioren der Stadt, dem Bürgermeister( Simon Baumgartner), Apotheker (Louis Kuschnir) und Kapellmeister (Florian Mehl), die das Geld bereits fest verplant haben, gelingt es ihnen, Traugott in Begleitung Atlantas und des Pastors über den Atlantik zu schicken, ohne dass er seinen Heiligenschein öffentlich ablegen muss. In Montevideo angekommen, wird die Gruppe von südamerikanischen Schönheiten empfangen. Belinda (Anna Böttcher) und insbesondere Carmen de la Rocco (Ilayda Kohl) umgarnen die Männer, die sich nun im größten Sündenpfuhl glauben. Die jungen hübschen Mädchen, die in dem Haus leben, hält der Professor für „leichte“ Mädchen, die dort nächtens ihr Geld verdienen.
Und das Beste kommt bei der Testamentseröffnung und Näglers Moralvorstellungen werden auf eine harte Probe gestellt: Das dringend benötigte Erbe gibt es nur, wenn sich am trauten Herde des tugendhaften Professors eine ähnliche Tragödie ereignet wie die seiner Schwester. Nun begreift Traugott: Atlanta muss ein Kind bekommen und darf bis dahin nicht heiraten!
Als nun auch noch völlig unerwartet Atlantas Liebster Herbert (Johannes Löw) auftaucht, scheint sich eine Möglichkeit für Traugott aufzutun. Doch wie ist diese Idee für einen Moralapostel umsetzbar? Mit wortgewaltigen Gleichnissen, die der Professor in den anschaulichsten Bildern schildert, versucht er den zukünftigen Bräutigam von der üblichen Reihenfolge der Vorgehensweise abzubringen. Herbert möge doch die „Süßspeise“ vor der „Suppe essen“. Doch dieser in seiner herrlich gespielten Naivität versteht nichts. Das Publikum kann sich nicht mehr halten und liefert heftigen Zwischenapplaus wie an so vielen anderen Stellen des Stücks.
Die Kunst dieser unglaublich unterhaltsamen Inszenierung steckte im Detail. Professor Nägler, von Leandro Stark verkörpert, schlüpfte derartig überzeugend mit einer gewaltigen Stimme in die Rolle des Sittenwächters, dass er selbst den Souffleur in preußischem Ton anherrschte. Seine Gattin, gespielt von Lea Hägele, die in einer Doppelrolle auch die Statue Maria Machado spielte, übertraf sich in beiden Rollen selbst, stand sie doch eine Stunde als weiß geschminkte Büste auf der Bühne und kommentierte das Geschehen mit einer Mimik, die überwältigender nicht sein konnte. Ilayda Kohl als rassige Carmen de Rocco lieferte nicht nur schauspielerisch eine Glanzleistung. Sie sang während ihres heißblütigen Tangotanzes mit dem Professor solo und stellte Nägler damit auf eine harte Probe.
Nicht nur dass alle Akteure mit einer gewaltigen Spielfreude auf der Bühne standen, auch die musikalischen Einlagen, die das Spiel untermalten, übertrafen alle Erwartungen. Die Überseefahrt wurde von den Schauspielern selbst gesanglich dargeboten und von Simon Baumgartner als Matrose Hein Mück tänzerisch gestaltet. Für südamerikanische Livemusik sorgten Maike Piesker am Cello, Martin Voronkoff mit seinem Akkordeon und Andreas Knoblich am Flügel und E-Piano.
Und als sich am Ende herausstellt, dass alle je auf dem Schiff „Atlanta“ geschlossenen Ehen ungültig sind, tobte das Publikum! Ausgerechnet der Moralapostel Traugott Nägler hat jahrelang in „wilder Ehe“ gelebt und nennt zwölf uneheliche Kinder die Seinen!

Mit dieser Inszenierung ist der Leiterin der Theater-AG Christine Ammermann ein Debüt gelungen, das eine enorme Professionalität aufweist und das auf weitere großartige Aufführungen hoffen lässt.